Mal schleichend, mal in Schüben – verbunden mit starken Bauchkrämpfen und Durchfällen, begleitet von Gewichtsverlust, Müdigkeit und einem hohen Leidensdruck – so zeigen sich die beiden häufigsten chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Während bei Colitis ulcerosa nur die Schleimhaut des Dickdarms betroffen ist, sind es bei einer Crohn-Erkrankung die gesamte Darmwand, vor allem im Dünndarm, mitunter aber auch Magen und Speiseröhre. Die anhaltenden Entzündungen schädigen das Gewebe dauerhaft und erhöhen das Krebsrisiko. Klassische Behandlungsstrategien unterdrücken zumeist das Immunsystem. Neuere Therapien dagegen greifen gezielt in die Entzündungsreaktion ein und blockieren bestimmte körpereigene, entzündungsfördernde Botenstoffe.
Die Auslöser der schweren Systemerkrankungen sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Neben genetischen Komponenten tragen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Umwelteinflüsse zum ihrem Entstehen bei. Prof. Ahmed Hegazy erforscht an der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie der Charité seit mehreren Jahren die Entzündungsmechanismen und die Immunabwehr des Darms. Als treibende Kraft chronischer Darmentzündungen konnte er gemeinsam mit seinem Team nun das Zusammenspiel zweier Botenstoffe des Immunsystems ausmachen: Interleukin-22, ein Protein, das Zellen der innersten Schicht der Darmwand, des Epithels, unterstützt und die Barrierefunktion erhält und Onkostatin M, ein Signalmolekül, das wesentlich an der Geweberegeneration und Zelldifferenzierung beteiligt ist.
Unkontrollierte Kettenreaktion
„Wir treffen in der Klinik vor allem auf junge Patient:innen, die am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn stehen. Bisher können wir die Krankheitsverläufe nur verlangsamen und Symptome lindern. Nicht alle Patient:innen sprechen gleichermaßen auf die verfügbaren Behandlungen an. Neue therapeutische Ansatzpunkte sind daher dringend nötig", sagt Ahmed Hegazy. Bereits in vorangegangenen Arbeiten hat sich das Forschungsteam intensiv mit dem entzündungsfördernden Botenstoff Onkostatin M beschäftigt. Produziert von bestimmten Immunzellen, aktiviert dieses Protein weitere Entzündungsfaktoren – eine Kettenreaktion setzt sich in Gang, die zu einer ungehemmten Immunreaktion führt. „Besonders interessant war für uns die Beobachtung, dass Patient:innen mit hoher Onkostatin-M-Produktion auf einige der bekannten Therapien nicht ansprechen", erklärt Ahmed Hegazy. „Die Onkostatin-M-Expression kann demnach auf ein mögliches Therapieversagen verweisen und als Biomarker für einen schweren Krankheitsverlauf dienen. Genau hier setzten wir an: Wir wollten die zugrunde liegende Signalkette noch besser verstehen – und sie gezielt therapeutisch unterbrechen."
Ganze fünf Jahre lang war das Forschungsteam den Mechanismen auf der Spur, die hinter den durch Onkostatin M ausgelösten Entzündungsreaktionen stehen. Zunächst anhand spezifischer Tiermodelle, später an Gewebeproben von Patient:innen, untersuchten sie die verschiedenen Stadien der chronischen Erkrankungen. Modernste Einzelzell-Sequenzierungen zeigten, dass – verglichen mit gesundem Gewebe – im entzündeten Darm deutlich mehr unerwartete Zelltypen Bindungsstellen für Onkostatin M aufweisen und zusätzliche Immunzellen das Entzündungsprotein produzieren. Interessanterweise macht das ursprünglich gewebeschützende Interleukin-22 die Darmepithelzellen gleichzeitig empfindlicher für Onkostatin M, indem es die Bildung zusätzlicher Andockstellen fördert. „Die beiden Immunbotenstoffe arbeiten zusammen und heizen die Entzündung weiter an, wodurch noch mehr Immunzellen in den Darm gelockt werden – ein Feuer, das immer mehr Nahrung erhält und sich ausbreitet", beschreibt Ahmed Hegazy. „In unseren Modellen haben wir gezielt die Bindungsstellen für den Entzündungsbotenstoff Onkostatin M blockiert und konnten beobachten, dass sich dadurch chronische Darmentzündungen sowie die damit verbundene Krebsentwicklung deutlich abschwächen."
Gezielte Therapie für Risikopatient:innen in Sicht
In Gewebeproben von Patient:innen mit Darmkrebs infolge einer chronischen Darmentzündung fanden die Forschenden eine besonders hohe Anzahl von Bindungsstellen für den Botenstoff Onkostatin M im Umfeld der Tumoren – nicht jedoch im angrenzenden gesunden Gewebe. Eine Beobachtung, die nahelegt, dass der entdeckte Signalweg die Krebsentwicklung fördert. Doch nicht bei allen Betroffenen führt die chronische Entzündung unmittelbar zu Darmkrebs. „Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen sind sehr komplex und verlaufen individuell unterschiedlich. Genau das macht ihre Behandlung und eine Verlaufsprognose so schwierig", sagt Prof. Britta Siegmund, Direktorin der Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie. „Anhand der jetzt aufgedeckten Rolle von Onkostatin M und seiner verstärkenden Wechselwirkung mit Interleukin-22 verstehen wir die Mechanismen, die chronische Entzündungen bei bestimmten Patient:innen antreiben, besser. Das eröffnet die Möglichkeit, einen neuen Therapieansatz zu testen und weiterzuentwickeln."
Aus den experimentellen Erfolgen des Forschungsteams soll eine konkrete Behandlungsmöglichkeit werden: durch die gezielte Hemmung der Verbindung zwischen den Botenstoffen Interleukin-22 und Onkostatin M. „Unsere Ergebnisse liefern eine belastbare Grundlage dafür, diesen entzündungsfördernden Mechanismus bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen – insbesondere bei Patient:innen mit schwerem Krankheitsverlauf – therapeutisch anzugehen", sagt Ahmed Hegazy. Eine klinische Studie mit einem Antikörper, der gezielt Andockstellen für Onkostatin M blockiert, ist bereits angelaufen.
Charité: Damit aus chronischer Entzündung kein Krebs wird

01. Juni 2025 - 09:14 Uhr
Von Peter Heidenreich